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Jan Schneidereit

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Nachtschicht in Selydove

Jeden Tag werden Menschen im Donbas getötet. Verletzte müssen in einem Stabilisierungspunkt versorgt werden. Zu Besuch an einem Ort, an dem man zugleich als erstes und als letztes sein will.

Oleksandr macht nicht den Eindruck, dass er sich hier zu sein jemals hätte vorstellen können. Jetzt liegt er oberkörperfrei auf einem Krankenbett. Eine Pflegerin versucht mit einem magnetischen Stift metallene Schrapnelle aus seinem linken Oberarm zu ziehen. Er lässt die Prozedur über sich ergehen.Vor nicht einmal einer dreiviertelstunde inspizierte er noch in Uniform und mit Sturmgewehr einen kürzlich geräumten Schützengraben der russischen Gegenseite, als er eine Sprengfalle auslöste. Die Explosion spuckte ihm Feuer, Staub und kleine Metallteile entgegen. Ein paar Minuten später wird beim Röntgen seiner Verletzung klar, dass er hätte sterben können. Das vor dem blauen Grund des Röntgenbilds hervorstechende fingernagelgroße Schrapnell verfehlte nur knapp seine Schlüsselbeinarterie. Es ist ein Teil seines Funkgeräts.

Oleksandr kam, wie viele andere vor ihm, über eine asphaltierte Rampe, die zivile und militärische Rettungstransporte von der Hauptstraße in einer scharfen Kurve in die Notaufnahme führt. Jetzt stehen dort Soldaten mit Kopfverbänden neben Pflegerinnen und Ärzten. Die meisten von ihnen rauchen, während am Horizont helle Blitze den nächtlichen Himmel in unregelmäßigen Abständen erleuchten, fast wie ein Gewitter. Nur ohne Donner. Was sie hier jede Nacht beobachten können, ist aber kein Wetterphänomen, sondern der harte militärische Schlagabtausch zweier Armeen, die um die Herrschaft im Donezk-Becken ringen. Die Menschen, die hier stehen und eine kurze Raucherpause machen, wissen das nur zu gut und warten auf den blutigen Niederschlag dieser Auseinandersetzung.

Was sich hier Nacht für Nacht in Bewegung setzt, sei die erste medizinische Verteidigungslinie nach der Erstversorgung an der Front, erläutert Michail. Dabei versprüht er die Ruhe und Unaufgeregtheit, die man sich von einem Arzt wünscht. Der Mittvierziger steht mit blauem Schlupfhemd in einem kleinen OP-Saal und macht eine ausladende Armbewegung, als er die Arbeit, die sie hier machen, genauer erklärt. Wir sind in einem Stabilisierungspunkt etwa zwanzig Kilometer von der Front entfernt. Hier bekommen verwundete Soldaten ihre erste Hilfe durch Fachpersonal und werden für weiterführende Behandlungen stabilisiert.

„Kennen Sie M*A*S*H?“, fragt Michail und muss etwas lachen. Um ihre Arbeit verständlich zu machen bezieht er sich auf eine US-Fernsehserie aus den 1970er Jahren. Die erfolgreiche Dramödie zeichnet den Alltag von Ärzten eines mobilen Feldlazaretts im Koreakrieg nach. Wie in der Serie machen sie hier keine aufwendigen Operationen, sondern nur das, was nötig ist, damit ein sicherer Weitertransport möglich ist. Wie in der Serie sind sie alle Zivilisten, die jetzt dem Militär unterstellt sind. Wie in der Serie versuchen sie das beste aus ihrer Situation zu machen.

Für Michail ging der Krieg 2015 los, als seine Tochter geboren wurde und man ihn das erste Mal einzog. Damals verließ er seine Heimatstadt im Westen der Ukraine, um in einer ähnlichen Einrichtung in Bachmut zu arbeiten. Danach ging er wieder in seinen zivilen Beruf als Chirurg zurück. Am 24. Februar 2022 erhielt einen Anruf vom Militär und wurde erneut mobilisiert: Zuerst nach Mariupol und dann wieder in den Donbas. Seitdem hat er seine Tochter nur einmal zum Weihnachtsfest zuhause besuchen dürfen. Gerade versucht er im August seinen Fronturlaub für zehn Tage zu bekommen, pünktlich zu ihrem achten Geburtstag.

Dies ist kein normales Krankenhaus, sondern ein Krankenhaus im Krieg: Die Fenster sind von innen mit Sandsäcken oder Sperrholzplatten befestigt. Ab neun Uhr abends gilt in der gesamten Stadt strikte Verdunkelungspflicht, was in einer solchen Einrichtung nur teilweise möglich ist. Bisher hatten sie noch keine Probleme mit Raketen- oder Artilleriebeschuss, sie liegen außerhalb der Reichweite der meisten Waffensysteme. Marschflugkörper und Raketen wie die russische „Kalibr“ oder „S-300“ könnten ihnen hier zwar gefährlich werden, sind in der Regel aber für Großstädte wie Kiew oder Odessa bestimmt, die in den letzten Wochen wieder heftigen Attacken ausgesetzt waren. „Wir verlassen uns hier auf unsere Luftabwehr“, sagt Michail. Auch wenn seine Einheit bei der Evakuierung von Mariupol im Frühjahr 2022 Opfer zu beklagen hatte, fühlt er sich hier relativ sicher.

Zurück auf der Rampe hält ein dunkler Kastenwagen der Armee vor der Notaufnahme. Durch ein kleines Fenster im hinteren Teil des massigen Fahrzeugs scheint rotes Licht nach draußen. Man kann sehen, wie lädierte Soldaten aufstehen und langsam auf die geöffneten Flügeltüren zu- und den wartenden Ärzten und Pflegern entgegen wanken. Sie sind nur leicht verletzt und können größtenteils selbst den kurzen Weg in das Krankenhaus gehen. Für solche, die es nicht schaffen, stehen Rollstühle bereit. Während dies vonstatten geht, ist bis auf den laufenden Motor des Transporters nicht viel zu hören, alles läuft hier professionell ruhig ab.

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Wie viele Menschen hier genau arbeiten, wird nicht bekannt gegeben. Genauso wenig wie der genaue Standort der Einrichtung. Im zentralen Behandlungsraum sind jetzt alle drei Betten belegt und der Raum voller Ärzte.

Hier werden die von den Sanitätern angelegten Verbände aufgeschnitten und die Wunden weiterversorgt. Alle in diesem Raum wurden durch Schrapnelle an den Armen und Beinen verletzt. Nebenbei werden ihre Uniformjacken und Hosen auf persönliche Gegenstände abgesucht und in Müllbeutel gesteckt. Später wird eine Krankenschwester erzählen, dass sie immer darauf achten müssten, dass keine Munition oder sogar Granaten in den Klamotten sind. In der Hektik an der Front könnten das die Sanitäter manchmal nicht gewährleisten. Einmal kullerte ihnen deswegen schon eine Handgranate aus einem Rettungswagen entgegen, die zum Glück nicht explodierte.

Nach einer halben Stunde ist der Spuk wieder vorbei und die Betten werden abgezogen. Zeit für Papierkram, eine Zigarette oder einen Tee. Heute gibt es Kuchen. Den hat eine Anwohnerin tagsüber als Zeichen ihrer Anerkennung vorbeigebracht und dem Personal übergeben. Im selben Raum, in dem kurz zuvor noch Verwundete behandelt wurden, kehrt jetzt Ruhe ein. Der Kuchen wird in Ermangelung von Besteck mit Zungenspateln gegessen. Trotz der vorangeschrittenen Uhrzeit und den langen Zwölf-Stunden-Schichten wird immer noch gelacht und sich ausgetauscht.

Bis auf das Kuchenessen wird sich dieser Ablauf in der Nacht noch ein paarmal wiederholen. Es kommt ein Krankenwagen die Rampe hochgerast und alles geht von vorne los.

Nach ihrer Behandlung zieht es die meisten Soldaten, die noch gehen können, an die frische Luft auf die Rampe. Hier kann man wegen der Verdunkelungspflicht viele Sterne sehen. Manchmal auch den Einsatz von Phosphorbomben, wie eine Pflegerin beobachtet haben will. Damit hätten ukrainischen Medienberichten zufolge russische Soldaten vergangenes Jahr die von hier aus in Blickrichtung liegende Stadt Marjinka angegriffen. Phosphor brennt mit etwa 1000 Grad Celsius und ist nicht mit Wasser löschbar, die Verletzungen, die dadurch verursacht werden, sind immens.

Im Schein seines Smartphones sitzt ein Soldat mit verbundener Stirn draußen auf dem Geländer. Er raucht eine dünne Davidoff Zigarette, wie man sie in der Ukraine häufiger sieht. Er kam vor gut einer Stunde hier an. Es ist bis auf das beständige Zirpen der Grillen ruhig, auch das ansonsten so präsente Donnern der Gefechte ist kaum zu hören. Als wir ihn ansprechen und fragen, wie sich die Stille für ihn anfühlt, überlegt er lang. „Stille bedeutet an der Front nichts Gutes. Es bedeutet, dass der Feind irgendwas vorhat“, sagt er erschöpft und ergänzt, dass er erst nach dem Krieg wissen werde, was das mit ihm macht.

Ein anderer Soldat, der neben ihm steht und aus derselben Einheit stammt, schildert die vorangegangenen Ereignisse bis zu ihrer Verwundung. Sie hatten heute Nacht zwei russische Stellungen eingenommen und sind etwa einen Kilometer vorgerückt. Als sie in die zweite Stellung eindrangen, wurden sie von einem Panzer überrascht. Es ist noch nicht lange her und die Erinnerung daran noch immer frisch. Er hat Kopfschmerzen und Schwierigkeiten zu stehen, sitzen geht aber auch nicht, denn verletzt wurde er am Gesäß. Wir fragen sie, wie die Lage zurzeit an der Front ist, und bekommen nach längerem Schweigen zwei knappe Antworten: „Hart“ und „traurig“. Dann gehen sie wieder rein. Der nächste Krankenwagen kommt die Rampe hochgefahren.

Anmerkung: In der Nacht zum 14. Februar 2024 wurde das Krankenhaus, in dem sich der Stabilisierungspunkt befand, durch einen russischen Raketenschlag zerstört. Dabei kamen mindestens drei Personen ums Leben. Eine Mutter und ihr acht Jahre alter Sohn sowie eine Schwangere.

Es ist bereits die zweite Attacke auf die ostukrainische Stadt im Februar diesen Jahres.

Text & Bilder: Jan Schneidereit

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